Versuchter Totschlag & gefährliche Körperverletzung? BGH, Beschluss vom 4. August 2022, Az.: 5 StR 175/22
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
Das Urteil
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Sachverhalt
Nach den Feststellungen verletzte der Angeklagte den unbewaffneten Nebenkläger im Rahmen einer von diesem begonnenen körperlichen Auseinandersetzung mit mindestens sechs Messerstichen. Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Messereinsatzes durch Notwehr (§ 32 StGB) verneint; im Einzelnen hat es folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
- Anlässlich der vom Nebenkläger auf „ruppige Art und Weise“ vollzogenen Trennung von der mit ihm liierten Tochter des Angeklagten kam es zwischen beiden Männern zum Austausch von „WhatsApp“-Nachrichten mit wechselseitigen Vorwürfen, Beleidigungen und Drohungen. Aus Verärgerung veröffentlichte der Angeklagte schließlich über „Facebook“ ein sodann vielfach weiterverbreitetes „Live-Video“, in dem er das Verhalten des Nebenklägers missbilligte und die „Scheidung“ seiner Tochter von ihm ankündigte. Der hierüber erzürnte Nebenkläger beabsichtigte daraufhin, diese öffentliche Bloßstellung zu vergelten und den Angeklagten im Faustkampf zu verprügeln. In Umsetzung des Vorhabens erschien er einen Tag nach Veröffentlichung des Videos vor dem vom Angeklagten und seiner Familie bewohnten Mietshaus. Der Angeklagte war nicht anwesend, weil er Einkäufe erledigte. Bei seinem Eintreffen am Wohnhaus nahm er den in einem Hausdurchgang wartenden Nebenkläger wahr, in dessen Richtung er sich bewegte, während jener auf ihn zulief. Der unbewaffnete, etwa 27 Jahre jüngere, körperlich überlegene Nebenkläger griff den Angeklagten sofort an und schlug ihm mehrfach mit den Fäusten kraftvoll ins Gesicht, wobei er ihn schmerzhaft an den Augen traf. Der Angeklagte verlor dadurch seine Brille, geriet ins Straucheln und duckte sich. „Um sich gegen die Faustschläge zur Wehr zu setzen“, zog er ein in der Jacke mitgeführtes Messer und stach oder schlug damit mit bedingtem Tötungsvorsatz zunächst zwei Mal in den Bauchbereich des Nebenklägers, dann in dessen hinteren Oberschenkel (Gesäß) und noch mindestens drei weitere Male in den Bereich des Oberkörpers, wobei er rief, er werde den Nebenkläger „abstechen“. Der Nebenkläger äußerte seinerseits sinngemäß, der Angeklagte solle aufhören. Das „hochdynamische“ Geschehen dauerte nur wenige Sekunden. Die dem Nebenkläger zugefügten Verletzungen waren potentiell lebensgefährlich; er musste intensivmedizinisch versorgt werden.
- Nach der Wertung des Landgerichts hat sich der Angeklagte in einer Notwehrlage befunden und mit Verteidigungswillen gehandelt. Seine Verteidigungshandlung – jedenfalls die Vielzahl der Verletzungshandlungen und die Intensität und Gefährlichkeit der zugefügten einzelnen Stiche – sei hingegen nicht erforderlich gewesen, was er auch erkannt habe. Zudem habe er, unabhängig davon, ob sich der Nebenkläger bei vorheriger Androhung des Messereinsatzes von einem weiteren gewaltsamen Vorgehen hätte abbringen lassen, das Messer sofort in einer lebensgefährlichen Art und Weise eingesetzt, statt – wie aus Sicht der Strafkammer geboten – (zunächst) eine „den unbewaffneten Nebenkläger weniger gefährdende, aber erfolglos gebliebene Abwehrhandlung mit dem Messer“ vorzunehmen, „so dass bei einer erneut ungeeigneten Verteidigungshandlung eine weitere Eskalation objektiv zu befürchten gewesen wäre“.
Urteilsgründe
Diese Erwägungen, mit denen das Landgericht die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung und damit eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr (§ 32 StGB) abgelehnt hat, halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es hat einen rechtsfehlerhaften Maßstab zugrunde gelegt und hiervon ausgehend nur unzureichende Feststellungen getroffen.
- Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann deshalb durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist dessen Gebrauch zwar regelmäßig anzudrohen und, sofern dies nicht ausreicht, der Versuch zu unternehmen, auf weniger sensible Körperpartien einzustechen. Diese Einschränkungen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Drohung oder der weniger gefährliche Messereinsatz unter den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.
- a) Schon der Ansatz des Landgerichts, der Messereinsatz sei erst geboten gewesen, wenn nach einer den unbewaffneten Nebenkläger weniger gefährdenden, aber erfolglos gebliebenen Abwehrhandlung „bei einer erneut ungeeigneten Verteidigungshandlung eine weitere Eskalation objektiv zu befürchten gewesen wäre“, erweist sich als rechtsfehlerhaft. Denn es geht bei der Prüfung der Erforderlichkeit des Abwehrmittels im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB nicht darum, ob eine weitere Eskalation der Situation heraufbeschworen wird; maßgeblich ist vielmehr die Frage, ob in der zugespitzten Angriffssituation gewährleistet ist, dass der Angriff endgültig beendet wird.
- b) Die auf der Grundlage dieses rechtsfehlerhaften Ansatzes getroffenen Feststellungen erlauben dem Senat nicht, die Erforderlichkeit des Messereinsatzes zu überprüfen.
- aa) Die Annahme des Landgerichts, dem körperlich unterlegenen, durch die schon erlittenen Faustschläge und den Verlust der Brille in seiner Abwehrfähigkeit eingeschränkten Angeklagten sei es im Rahmen eines „nur wenige Sekunden andauernden und hochdynamisch ablaufenden“ Geschehens, in dessen Verlauf er und der Nebenkläger sich „schnell bewegten“, möglich gewesen, das Messer auf weniger gefährliche Art und Weise einzusetzen, findet im Urteil keine Stütze. Das Landgericht hat – die Erfolgsaussicht einer vorherigen Androhung des Messereinsatzes ausdrücklich offenlassend – insbesondere nicht konkret benannt, welche weniger gefährliche, aber ausreichend wirksame (erste oder nachfolgende) Abwehrhandlung dem Angeklagten zur Verfügung gestanden hätte. Hierzu bestand indes angesichts des als hochdynamisch beschriebenen Kampfgeschehens, das sich in nur wenigen Sekunden ereignete, Anlass.
- bb) Soweit das Landgericht außerdem darauf abgestellt hat, dass jedenfalls die Vielzahl der gefährlichen Messerstiche nicht gerechtfertigt gewesen sei, fehlen Feststellungen dazu, ob bereits der erste oder ein späterer Einsatz des Messers eine ausreichende Abwehrwirkung erzielte, so dass ein weiteres Zustechen keine notwendige Verteidigungshandlung mehr darstellte. Allein die wertende Schlussfolgerung im Urteil, dem Angeklagten sei bewusst gewesen, dass es zur ausreichenden Abwehr des Angriffs jedenfalls mehrerer derart lebensgefährlicher Stiche oder Schläge mit dem Messer in den besonders sensiblen Oberkörperbereich nicht bedurfte, ersetzt die notwendigen Feststellungen nicht.
- cc) Zudem steht die Annahme, ein schonenderer Messereinsatz sei realisierbar gewesen, im Widerspruch zu der an anderer Stelle im Urteil mitgeteilten Überzeugung des Landgerichts, eine genaue Platzierung der Messerstiche sei dem Angeklagten gar nicht möglich und deren Einstichtiefe für ihn nicht zu kontrollieren oder zu dosieren gewesen.
- Die Sache bedarf nach alledem insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.